SEPTETT - FANTASIE IN DES-DUR
Obwohl die Manuskript-Partitur des Septetts den Vermerk 1927 trägt, handelt es sich um das Werk, das als Fantasie für Klavier und Orchester 1910 im Rahmen der Pariser Colonne-Konzerte unter Gabriel Piernés Leitung uraufgeführt worden ist. Nicht ganz klar ist, ob es sich bei der Septett-Fassung von 1927 um eine spätere Bearbeitung für Kammerensemble oder um die Urfassung für Orchester von 1910 handelt. Obwohl in einer zeitgenössischen Rezension von einem reduzierten Orchester die Rede ist, spricht doch vieles dafür, dass es sich bei der Septett-Fassung um eine nachträgliche Bearbeitung handelt. Das Notenmaterial der Urfassung ist jedenfalls bis jetzt noch nicht gefunden worden.
Dem Werk ist anzumerken, dass es von einer ambitionierten Künstlerin geschaffen wurde, und man weiß aus vielen Äußerungen, dass die Komponistin selbst dieses Werk sehr hoch eingeschätzt hat. Die zwiespältige Aufnahme der Fantasie durch Musiker und Publikum bei der Uraufführung 1910 und das Verschwinden dieses Werks aus dem Bewusstsein der Musikwelt sind ein Hinweis darauf, wie sehr man bei der Beurteilung eines Werks in die Irre gehen kann, wenn man es nur nach flüchtiger Kenntnis oder nach unzulänglicher Erarbeitung und Darbietung beurteilt.
Es ist, ähnlich wie das erste Klavierquartett, ein außerordentlich sorgfältig und konzentriert gearbeitetes Werk, bis in den letzten Takt durchdacht und ausgefeilt, harmonisch abwechslungsreich, von spätromantischen über impressionistische Klänge bis in Grenzbereiche der Tonalität reichend. Dieses Werk erschließt sich nur dem, der bereit ist, bei der Erarbeitung die gleiche Sorgfalt und Intensität einzubringen, die die Komponistin beim Entstehungsprozess aufgewendet hat, und der ein Gespür entwickelt hat für instrumentale Balancen. Der naheliegendste und daher folgenschwerste Irrtum ist es, das Werk für ein Konzertstück für Klavier und Orchester zu halten. Ein erster Blick in die Partitur mag dies wohl suggerieren, denn der Klavierpart ist außerordentlich differenziert, farbig und bisweilen sogar virtuos angelegt. Bald wird man aber erkennen, dass den Streichern und den Flöten mit ihren großen melodischen Bögen sehr wichtige thematische Funktionen zugedacht sind, während das Klavier zwischen atmosphärischer, stützender, ergänzender und umspielender Funktion schwankt. Es durchdringt den Streicherpart, schafft eine romantisch-impressionistische Klangsynthese und unternimmt nur ganz ausnahmsweise – und auch nur relativ wenige Takte lang – solististische Ausflüge in Kadenzform.
Obwohl es sich rein formal um eine Fantasie, also ein in sich geschlossenes Werk ohne die übliche Satzeinteilung handelt, ist doch die klassische Viersätzigkeit, zumindest in der Anlage, nicht zu übersehen: Modéré – Scherzo mit Trio – Langsamer Teil – Finale Vif. Nach dem Eingangsmoderato führt eine relativ ausführliche Klavierkadenz zum Scherzo. Die in diesem Teil auffällige bizarre Melodik der Streicher, unterlegt durch Achtelketten mit Sekund-Dissonanz-Reibungen und mit einem Wechsel von einfachem mit hemiolischem Dreierrhythmus schafft eine irisierend-unwirkliche und hektische Atmosphäre, die sich erst im Trio in beruhigtem, aber schmerzlichem Wohlklang auflöst. Der folgende langsame Teil wird anfangs von polyphonen Streicherlinien geprägt, die sich zu einem satten Streichquartettklang verdichten – für zehn Takte werden die Streicher vom Klavier ausnahmsweise allein gelassen – , um danach durch mannigfache romantisch-impressionistische Klangbilder dem anschließenden Prestofinale (Vif) zuzustreben, jedoch nicht ohne vorher die Themen des Modéré und des Scherzos in Erinnerung zu bringen. Diese Zitate und die starke Verwandtschaft aller Themen untereinander sind wichtige Klammern, die dem Werk den Zusammenhalt geben. Ein furioses Presto, diesmal angeführt vom Klavier, beschließt schwungvoll dieses interessante Werk.
Dr. Eberhard Mayer, Leverkusen im Juli 2003