Carl Reineckes Märchengestalten op. 147 wurden in der Originalfassung für Klavier solo erstmals im Februar 1878 angezeigt. 1886 erschien darüber hinaus eine vom Komponisten selbst arrangierte Fassung für Klavier zu vier Händen.[1] Reinecke widmete diese Fantasiestücke seiner 1867 geborenen Tochter Charlotte ("Lottchen"). Diese Widmung ist als ein erster Fingerzeig für die pädagogischen Absichten dieses Opus zu verstehen. Aber auch die schlichte Form der Märchengestalten, deren geringer Umfang von drei Zeilen bis zwei Seiten und deren nicht allzu hoher technischer Anspruch deuten in dieselbe Richtung. In seinem Ratgeber Was sollen wir spielen?, ein Führer durch die Literatur der Hausmusik, der das musikalische Talent heran-wachsender Kinder teils zu wecken, teils zu pflegen und die Musik im Hause am besten zu kultivieren sollte, ordnet Reinecke das Werk neben seinen Sonatinen op. 47 und 98 ein und stellt sie an die Seite von Beethovens Klaviersonaten op. 49, Schumanns Album für die Jugend op. 68 (Nr. 6–11) oder Mozarts Klaviersonate in G-Dur KV 283. Die Märchengestalten werden in der Fachpresse positiv aufgenommen. The Monthly Musical Record betitelt Carl Reinecke als "the Hans Christian Andersen of the pianoforte" und warnt davor, diese poetischen, kleinen "show-pieces" von unge-künsteltem, musikantischem Charakter ("sterling musicianly character") bei aller Einfachheit und ihrem sehr gemäßigten technischen Anspruch musikalisch zu unterschätzen.[2]
Die 16 kleinen Fantasiestücke bestehen neben Prolog und Epilog aus 14 nach verschiedenen Gestalten benannten Charakterstücken:
Nr. 1 Prolog
Nr. 2 Aschenbrödel
Nr. 3 Heinzelmännchen
Nr. 4 Gute Fee
Nr. 5 Rübezahl
Nr. 6 Schneewittchen
Nr. 7 Die Roggenmuhme
Nr. 8 Der Königssohn
Nr. 9 Dornröschen
Nr. 10 Rotkäppchen
Nr. 11 Die sieben Zwerge
Nr. 12 Böse Fee
Nr. 13 Melusine
Nr. 14 Undine
Nr. 15 Die Regentrude
Nr. 16 Epilog
Nicht alle dieser Gestalten sind Märchengestalten im engeren Sinne. Heinzelmännchen, Rübezahl, die Roggenmuhme und Melusine entstammen der Sagenwelt.
Reinecke trennt in dieser Sammlung Zusammengehöriges voneinander. So stehen Schneewittchen und die sieben Zwergen oder die Gute Fee und die Böse Fee nicht nebeneinander. Dadurch soll sicherlich vermieden werden, dass programm-musikartige Erzählstränge innerhalb der Sammlung gesucht werden. Die einzelnen Charakterstücke sollen offensichtlich für sich stehen und können auch aus der Sammlung herausgelöst vorgetragen werden, wie sich aus der Aufteilung der Fassung für Klavier zu vier Händen in zwei Hefte unweigerlich erschließen lässt. Konnte doch der Komponist auf diese Weise nicht davon ausgehen, dass den jungen Musikern das Opus vollständig vorliegt.
In seinen Märchengestalten op. 147 folgen drei mit Wasser verbundene Frauen, nämlich Melusine, Undine und die Regentrude, direkt aufeinander. Diese Wasserfrauen entstammen jedoch ihren ganz eigenen erzählerischen Kontexten und sind ähnlich unterschiedlich wie etwa die Heinzelmännchen und die sieben Zwerge. Die bekannteren beiden, Undine und Melusine, werden häufig auch als Nixen, Nymphen oder Meerjungfrauen bezeichnet. Eine einheitliche Bezeichnung hat sich für diese Gruppe der Wasserwesen nicht durchgesetzt. In der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie von 1846 heißt es, dass "[...] die Nixen häufig in Gemeinschaft erscheinen, im Sonnenschein mit dem schönen Leibe über die Wasserfläche tauchend, oder am Ufer sitzend und ihr Haar strälend [sic!]. Auch mischen sie sich in die Gesellschaft der Menschen, wo sie dann am nassen Zipfel des Gewandes erkennbar sind. Im Verhältnis zu den Menschen zeigt sich bei den Wassergeistern oft ein Zug von Tücke; sie locken dieselben an sich, und namentlich die männlichen, verderben dann das Opfer, das sie begehren. Eigen ist ihnen die Liebe zu Tanz, Gesang und Musik, die sie selbst üben."[1] Nach Hartmanns Kunstlexikon wird die Nixe "im allgemeinen mit menschlichem Oberkörper dargestellt, der in einen Fischschwanz ausläuft." Außerdem wird sie "fast immer verführerisch schön wiedergegeben."[2]
Tatsächlich ist aber keine der hier vorgestellten Wasserfrauen eine Meerjungfrau mit Fischschwanz.
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1. Melusine
Die Ursprünge der Sage von Melusine reichen bis ins Mittelalter zurück. Im 19. Jahrhundert war sie unter anderem durch eine Bearbeitung von Ludwig Tieck (1773–1858) verbreitet.
Wegen eines Fluches wächst Melusine jeden Samstag vom Nabel abwärts ein Schlangenschwanz. Nur wenn sie einen Mann heiratet, der sie an keinem Samstag zu sehen verlangt und niemals ihrem Geheimnis nachforscht, ist ihr Fluch gebrochen und sie kann als Mensch sterben. Melusine trifft im Wald auf den jungen Ritter Raymund und verspricht ihm Ehre, Glück und Reichtum, wenn er sie zur Frau nehme. Raymund willigt ein.
Nach Jahren glücklicher Ehe sät Raymunds Bruder allerdings Zweifel an der Ehrhaftigkeit seiner Schwägerin Melusine. Der verunsicherte Raymund spürt an einem Samstag seiner Frau nach, bohrt durch eine Tür mit seinem Schwert ein Loch und sieht Melusine "im Bade, wie sie von oben bis auf den Nabel ein schönes Weib sei, dann aber in den Schweif einer bunten gesprengten Schlange endigte, der azurblau war und mit Silberfarben darunter gesprengt, so dass diese Farben wundersam in einander schimmerten. Das Zimmer war eine tiefe Grotte, die Wände waren mit allerhand seltsamen Muscheln ausgeziert und ein Springbrunnen, in welchem sich Melusina befand, war in der Mitten. Von oben ergossen sich auch Wasserstrahlen und tröpfelten wie Perlen durch einander, bei welchem wunderbaren Getöse Melusina sang, indem sie eine Zitter in der Hand hielt".[3] Das Vertrauen ist gebrochen, das Unglück nimmt seinen Lauf. Am Ende verlässt Melusine Raymund durch einen Sprung aus dem Fenster und fliegt davon.
Reineckes Musik könnte die im Bade singende Melusine darstellen. Die 16tel-Figurationen wären dann der Springbrunnen und die wie Perlen tröpfelnden Wasserstrahlen von oben. Die zwischen den Flöten aufgeteilte Melodie könnte der Gesang der Melusine sein.
2. Undine
Das Kunstmärchen Undine von Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) erschien 1811[4], greift aber auf Elemente älterer Literatur zurück. Es erzählt von dem "Meerfräulein" (S. 138)[5] Undine, das auf Wunsch ihres Vater, dem "mächtigen Wasserfürst[en] des Mittelländischen Meeres" (S. 79), und durch geschicktes Betreiben ihres Onkels Kühleborn den Ritter Huldbrand von Ringstetten heiratet, um durch diese Ehe mit einem Menschen eine unsterbliche Seele im christlich-theologischen Sinne zu erhalten (S. 78). Die Ehe ist allerdings an zwei Verbote geknüpft. Die sogenannten Elementargesetze (S. 153) fordern, ein Mann dürfe nie das Geschlecht der Wassergeister beleidigen, indem er seine angetraute Meerfrau auf einem Wasser schilt. Bei Verstoß müsse die Gescholtene "lebenslang drunten in den Kristallpalästen wohnen" und dürfe nie wieder herauf (S. 120). Durch diese Trennung sei die Ehe nämlich nicht geschieden. Weiters dürfe der Mann der Meerfrau nicht untreu werden, indem er wieder heiratet. Dann müsse die Meerfrau ihren Gatten nach den Elementargesetzen richten und töten (S. 153).
Diese sogenannte Mahrtenehe, die Ehe zwischen Mensch und Wassergeist, wird von zwei Personen gestört, einerseits von Bertalda, einer alten Liebe von Huldbrand, andererseits von Kühleborn, Undines Onkel, dessen beängstigendes, aufbrausendes Auftreten Huldbrand von der Welt seiner Frau entfremdet.
Bei de la Motte Fouqué werden Undine und Kühleborn immer in menschlicher Gestalt oder als zerronnen in Wasser beschrieben. Fischschwänze sind ihnen fremd.
Reinecke Charakterstück beschreibt vielleicht Undines Streben nach einer Seele (T. 1–9, in a-Moll), den Verstoß gegen die Elementargesetze (T. 10–17, in abseitigem B-Dur) und den Fluch des Schicksal (T. 18–23, mit unbeugsamen Orgelpunkt auf e). Die triolische Begleitung lässt sich mit dem Wasser allgemein oder Onkel Kühleborn assoziieren. Am Ende verrinnt die Musik wie Undine im Wasser.
3. Die Regentrude
Die Regentrude von Theodor Storm (1817–1888) wurde als "Mittsommermärchen" erstmals 1864 in der Leipziger Illustrirten Zeitung veröffentlicht.[6] Es hat in den heutigen Zeiten des menschengemachten Klimawandels eine ungewollte Aktualität. Storms Erzählung handelt von der heidnischen Naturgöttin Regentrude, die einst den Regen brachte, aber, seitdem die Menschen ihrer vergaßen, vor "Hitze und lauter Langeweile eingeschlafen" (S. 67)[7] war. Die Regenfrau wird als "schöne mächtige Frauengestalt" mit blonden Haaren, "die bis zur Hüfte hinabflossen" (S. 61), beschrieben. Ihr Gesang "klang süß und eintönig" (S. 73). In einem heißen Jahrhundertsommer droht alles zugrunde zu gehen, die Ernte verdorrt, das Vieh verdurstet. In ihrer Not machen sich Maren und Andrees auf den abenteuerlichen Weg zur Regentrude, weil man sich nur noch von ihr Hilfe versprach. Maren weckt die Regentrude mit einem Sprüchlein und öffnet den Brunnen. Hierauf fließt das Wasser wieder. Man hört "das sanfte Rauschen Regens", aber auch "lautes Prasseln" (S. 69), Tropfen fallen "spielend und klingend in die Fluten", der Wasserfall "stürzte sich schon wieder tosend über die Felsen und floß dann strömend in der breiten Rinne unter den dunkeln Linden fort" (S. 70). Die Natur erholt sich daraufhin schlagartig: "Wie ein Hauch rieselte ein lichtes Grün über die verdorrte Pflanzendecke, die Halme richteten sich auf, und bald wandelte das Mädchen durch eine Fülle sprießender Blätter und Blumen" (S. 65). Nun darf Maren den ihr versprochenen Andrees heiraten.
Die chromatisch durchsetzten 16tel-Figurationen in Reineckes Fantasiestück haben so wenig Labendes an sich, dass sie wohl kaum den rettenden Regen illustrieren sollen. Eher eignen sie sich für die Darstellung der ächzenden Natur, die unter der schwelender Hitze leidet. Dem gegenüber stehen die lieblichen und schlichten Gesänge der Regentrude.
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Zurück zu Melusine und Undine. Im 19. Jahrhundert vermischen sich beide Stoffe zunehmend. Claudia Steinkämper hat dafür den Begriff Melundine geprägt.[8]
In Franz Grillparzers (1791–1872) Melusine wird Raimund von zwei Frauen umworben, von Melusine und von Bertha. Außerdem muss Raimund wegen des nicht gehaltenen Versprechens wie Ritter Huldbrand sterben.[9] Melusine ist bei Grillparzer halb Fisch halb Mensch.[10]
Im erklärenden Text zum zehnten Bild aus dem Zyklus Melusine (1868/69) von Moritz von Schwind (1804–1871) heißt es: "Nach Nixensatzung küßt Melusine den Geliebten zu Tod unter dem Wehklagen ihrer Schwestern."[11] Der Todeskuss ist ebenfalls ein Element der Fouquéschen Undine und hat mit der Melusinen-Sage ursprünglich gar nichts zu tun.
Reinecke wirkt auf pädagogische Weise dieser Vermischung entgegen, indem er Melusine und Undine nebeneinanderstellt. Er verlangt seinen jungen, bildungs-bürgerlichen Musikern gute Literaturkenntnisse als Grundlage für ihre Interpretation ab. Pauschale Assoziationen, die Melusine und Undine in die Nähe von Andersens fischschwänzigen kleinen Meerjungfrau rücken, wären also fehl am Platze.
München, im Juni 2024
Henrik Wiese
[1] Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations=Lexikon, 9. Auflage, Leipzig 1846, Bd. 10, S. 330.
[2] P. W. Hartmann, Kunstlexikon, Wien 1996, S. 1083f.
[3] Ludwig Tieck, Schriften, Berlin 1829, Bd. 13, S. 115.
[4] Die Jahreszeiten. Eine Vierteljahrsschrift für romantische Dichtungen, Frühlingsheft, Berlin 1811, S. 1–189.
[5] Die Seitenangaben folgen: Friedrich de la Motte Fouqué, Undine. Eine Erzählung, Frankfurt am Main und Leipzig 2000, Insel Taschenbuch 2403.
[6] Illustrirte Zeitung, Bd. 43, Nr. 1100, S. 79–83. Leipzig, den 30. Juli 1864.
[7] Die Zitate aus dem Märchen folgen der Reclam-Ausgabe: Theodor Storm, Die Regentrude und andere Märchen, Stuttgart 2007, S. 40–75, hier S. 67.
[8] Claudia Steinkämper, Melusine – Vom Schlangenweib zur „Beauté mit dem Fischschwanz“. Geschichte einer literarischen Aneignung, Göttingen 2007.
[9] Im Folgenden zitiert nach: Grillparzer, Melusine. Romantische Oper in drei Aufzügen. Wien 1833. Gesichtetes Exemplar: D-Mbs L.eleg.m. 1353 v.
[10] Franz Grillparzer, Gesänge aus: Melusina, romantische Oper in 3 Akten, Berlin [1833]. Gesichtetes Exemplar: D-Mbs Slg.Her 1130 a. S. 6.
[11] Moritz von Schwind, Die schöne Melusine, Ein Cyclus von 11 Bildern, mit Text von A. Forstenheim, Stuttgart o.J. Gesichtetes Exemplar: D-Mmb 2 Mon 482.
[1] Friedrich Hofmeister, Musikalisch-literarischer Monatsbericht, Februar 1878. S. 52. Mai 1886. S. 116. Musikalisches Wochenblatt, Jg. 17, Nr. 20, S. 260. Leipzig, am 13. Mai 1886.
[2] The Monthly Musical Record, Vol. 9, S. 108. 1. Juli 1879.